„Droht Deutschland die De-Industrialisierung“ war am 8. Januar 2024 die Frage in der siebten Folge der Reihe „Lohn, Preis und Profit“ der Wirtschaftspolitik in ver.di. Als Experten eingeladen waren Martin Höpner, Professor vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, und Beate Scheidt von der IG Metall. Für ver.di nahm Ralf Krämer an der Diskussion teil.
Höpner erläuterte in seinem einführenden Vortrag, dass es heterogene Wachstumsmodelle in der deutschen Wirtschaft gebe. Was für die exportorientierte Industrie gut sein, müsse für die Binnennachfrage keineswegs förderlich sein. Während die Exportindustrie von niedrigen Lohnnebenkosten profitiert, ist das für den Binnensektor mit seinen Versorgungsbranchen wie Gesundheit und Bildung eher von Nachteil, denn daraus werden sie finanziert. Exportorientierung in der Wirtschaftspolitik ist auch nicht immer im Interesse von Binnenindustrie wie dem Bausektor. Höpner sprach von sektoralen Interessensgegensätzen, die auch zu unterschiedlichen Interessen der Arbeitnehmer*innen in den verschiedenen Gewerkschaften führe.
Solche Interessenskonflikte würden in Deutschland traditionell zugunsten des Exportsektors gelöst, behauptete Höpner. Warum das so ist, versuche das MPI für Gesellschaftsforschung zu ergründen. Während in der US-Wirtschaft der Binnensektor mit 89:11 deutlich dominiere, ist es in Deutschland mit 31:69 der Exportsektor. Ähnlich stark exportorientiert seien noch die Niederlande und die Schweiz. In der Binnennachfrage seien nur Italien und Japan schlechter aufgestellt als die BRD.
Starkes Lobbying
Durch den Konsens, eine De-Industrialisierung zu verhindern, habe sich Deutschland im Energiepreisschock eine Subventionspolitik geleistet, die andere EU-Länder wie Frankreich sehr verärgert habe, so Höpner. Dabei sei besonders das starke Lobbying der IG BCE und des nahestehenden DGB zu beobachten gewesen, meinte Höpner. Ein Beispiel dafür sei die Debatte um den Brückenstrompreis, der andere Branchen als die Industrie nicht beachtet habe, die Privathaushalte ebenso wenig.
Höpner plädierte dafür, Subventionen weniger in der „hegemonialen“ Industrie, sondern mehr im Bereich der Arbeitskräfteförderung und der Bildung einzusetzen, „statt die Nachbarn mit unseren Leistungsüberschüssen zu traktieren“. Die Interessensgegensätze zwischen exportorientierter Industrie und der Binnenwirtschaft mit ihren sozialen Dienstleistungen „harmonisch aufzulösen, haut nicht hin“, zeigte sich Höpner überzeugt.
Subventionswettlauf
Beate Scheidt von der IG Metall betonte, der Energiepreisschock habe die Industrie überproportional getroffen, die sich außerdem einem Subventionswettlauf von Seiten der USA und Chinas ausgesetzt sehe. Sicherheitspolitische Interessen bestimmten seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine zunehmend die Handelspolitik und fragmentierten Handelsräume hin zu einer De-Globalisierung. Die EU verfolge eine „Open Strategic Autonomy“ für mehr Unabhängigkeit. Außerdem müsse die Industrie eine digital-ökologische Transformation stemmen.
Um den in Deutschland hohen Strompreis zu senken, seien der Ausbau der erneuerbaren Energien, der Um- und Ausbau der Netze für Wasserstoff und mehr Strom sowie die Kapazitätssicherung durch Speicher notwendig. Deutschland, so Scheidt, liege mit einer industriellen Wertschöpfungsleistung von 20 Prozent sehr hoch, nur in China sei die Prozentzahl höher. Dabei sei die deutsche Industrie eng mit dem Dienstleistungssektor verbunden. Bei Strompreisvorteilen für die Industrie verlangten die Industriegewerkschaften Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung und Tarifbindung als Gegenleistung.
Interesse an genug Geld für den Staat
Wie Ralf Krämer von ver.di betonte, heiße weniger Exportindustrie nicht mehr Binnenwirtschaft. Die Strompreisbremse habe ver.di befürwortet, aber nicht nur für energieintensive Industrie, sondern beispielsweise auch für die ebenfalls viel Energie brauchenden Krankenhäuser. Das Karlsruher Urteil habe viele Pläne zunichte gemacht. Der Unterschied bei den Gewerkschaften sei die Frage, wie hoch das Interesse daran ist, dass der Staat genug Geld hat für den öffentlichen Dienst und seine Leistungen in Bildung, Kitas und Gesundheit, die nun mal aus Steuern und Sozialbeiträgen finanziert würden. Und sei es durch höhere Lohne, durch Vermögenssteuer, mehr Erbschaftssteuer und steigende Spitzensteuersätze.
Susanne Stracke-Neumann
Die Videos der Reihe sind bei Youtube eingestellt, bisher die Folgen 1 - 5
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