Jetzt geht es Print an den Kragen. Verlage beginnen mit dem Rückzug aus gedrucktem Lokaljournalismus. Forderungen nach staatlicher Vertriebsförderung nehmen zu.
Von Günter Herkel
Seit Jahren klagen die Verlage über die zunehmend komplizierte und teure Zustellung von Tageszeitungen in ländlichen Gebieten. Im Nordwesten Brandenburgs zieht der dort tätige Madsack-Konzern jetzt drastische Konsequenzen. Ende September wird die gedruckte Lokalausgabe „Prignitz Kurier“ der Märkischen Allgemeinen Zeitung“ (MAZ) eingestellt. Zugleich wird die Print-Ausgabe durch neue Digital-Angebote ersetzt.
Die brandenburgische Prignitz gehört zu den am dünnsten besiedelten Gebieten Deutschlands. Gerade mal 76.000 Menschen leben dort auf einer Fläche, die doppelt so groß ist wie Berlin. Zuletzt zählte der „Prignitz Kurier“ nur noch 2.800 Abonnenten. Für Thomas Düffert, Konzern-Geschäftsführer der Madsack Mediengruppe, ist nun „auch infolge der mehrfachen Mindestlohnerhöhung aus 2022“ nicht nur in Prignitz der „Punkt erreicht, an dem die Zustellung der gedruckten Zeitung wirtschaftlich nicht mehr tragbar ist“. Daher werde man künftig auf „ein rein digitales Geschäftsmodell für Lokaljournalismus“ setzen.
Allerdings will sich Madsack publizistisch nicht komplett zurückziehen, sondern den Lokaljournalismus mit neuen Produkten in den betroffenen Regionen digital ausbauen. Laut Düffert soll das „Projekt Prignitz“ Keimzelle einer „Zukunftswerkstatt für digitalen Journalismus“ werden. Dafür will Madsack mehr als eine halbe Million Euro springen lassen. Nutzer vor Ort erhalten neue digitale Angebote in Form von Newslettern, Apps, Websites und Social Media. Als Basis dient dabei die Digitalpublishing-Plattform der Madsack-Mediengruppe RND OnePlatform.
Dass die Zeitungsverlage durch gestiegene Energiekosten sowie inflationär erhöhte Papierpreise hart getroffen werden, steht außer Frage. Zudem beklagen sie die durch Anhebung des Mindestlohns deutlich angewachsenen Vertriebskosten. Anfang Februar 2023 hatten der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) gemeinsam mit der Unternehmensberatung Schickler die Studie „Trends der Zeitungsbranche 2023“ präsentiert. 63 Prozent der an der Umfrage beteiligten Verlage spielten demnach mit dem Gedanken, die Zeitungszustellung in unwirtschaftlichen Bereichen einzustellen.
Keine leere Drohung, wie die kurz darauf bekannt gewordene Entscheidung der Funke Medien Thüringen belegte. Zum 1. Mai beendete die Gruppe mit Verweis auf mangelnde Rentabilität die Zustellung der „Ostthüringer Zeitung“ in den meisten Gemeinden des Landkreises Greiz. Seither heißt es für rund 300 betroffene Abonnenten „OTZ online only“. Um den teilweise älteren, wenig internetaffinen Kunden den Digitalumstieg zu erleichtern, organisierte der Verlag vor Ort kostenlose Tablet- und Smartphone-Schulungen. In Greiz zahlen die Kund*innen für das Digital-Abo nur noch 29,99 Euro pro Monat. Demgegenüber kostet das Print-Abo 45,90 Euro. Wie das Projekt ankommt, bedarf noch einer längeren Auswertung.
Eklär-Videos für Leser*innen
Auch Madsack will mit dem „Projekt Prignitz“ den bisherigen MAZ-Leser*innen den Umstieg von Print auf Digital so einfach wie möglich machen, unter anderem durch Erklär-Flyer und -Videos, Service-Hotlines, sogar durch Hausbesuche. Die digitaljournalistischen Produkte, so versucht der Verlag den Betroffenen die Umstellung schmackhaft zu machen, „werden mit zahlreichen nützlichen Features und Services wie Vorlese-, Playlist-, Merken- und Zoom-Funktion sowie digitalen Rätseln erweitert“.
MAZ-Chefredakteur Henry Lohmar wertet das Vorhaben als „Aufbruch“ und „Investition in die journalistische Zukunft“ in der Region Prignitz. „Die gedruckte Zeitung endet, die MAZ bleibt und macht ihren Lokaljournalismus besser“, begeistert er sich laut Madsack-Pressemitteilung. Das Modellprojekt könnte schon bald Schule machen. Zur Madsack-Mediengruppe zählen 19 regionale und lokale Zeitungstitel (Hannoversche Allgemeine, Leipziger Volkszeitung, Ostsee-Zeitung, u.a.), die gemeinsam derzeit auf mehr als 200.000 Digital-Abos kommen. Da besteht noch reichlich Luft nach oben.
Nicht nur auf dem flachen Land kämpfen Zeitungen mit Vertriebsproblemen. Selbst in der deutschen Hauptstadt müssen Abonnenten häufig auf die gewohnte Frühstückslektüre in gedruckter Form verzichten. So berichtete Ende März Tomasz Kurianowicz, Chefredakteur der „Berliner Zeitung“, über Schwierigkeiten bei der Zustellung. Der zuständige Logistiker „Last Mile GmbH“, so hieß es da „In eigener Sache“, habe „Engpässe bei den Mitarbeitern zu beklagen“. Die Gründe, so klagte Kurianowicz, seien „struktureller Natur“ und beträfen „alle Berliner Tageszeitungen“. So müssten „wegen des branchenbedingten Auflagenschwunds und der digitalen Transformation“ Zeitungszusteller immer größere Flächen abdecken, was zu längeren Wegen und folglich auch längeren Lieferzeiten führe. Außerdem sei der Job immer unattraktiver geworden, „trotz der Einführung des Mindestlohns“.
taz plant wochentags den Abschied von Print
Die linksalternative „tageszeitung“ (taz) hat schon vor Jahren als erstes klassisches Zeitungshaus in Deutschland beschlossen, aus Kostengründen mit der Digitalisierung ernst zu machen und ihre gedruckte Zeitung an Werktagen „irgendwann nach 2023“ einzustellen. Spätestens wenn neue Digitalabos die Kosten für Druck (Papier) und Vertrieb kompensieren, soll das Blatt nur noch am Wochenende als Printausgabe erscheinen, ansonsten digital.
Anderswo wird gleich der Rasenmäher angeworfen. Zum 1. Mai hat die westfälische Unternehmensgruppe Aschendorff sämtliche (kostenlosen) Anzeigenblätter mit einer Gesamtauflage von 362.000 Exemplaren eingestellt. Begründet wird dies mit „nie dagewesenen Kostensteigerungen“, vor allem mit dreifach höheren Papierpreisen, gestiegenen Energiekosten und dem Anstieg des Mindestlohns. Auch die zum „Westfalenblatt“ gehörende „OWL am Sonntag“ fand sich Ende April letztmals in den Briefkästen des Kreises Gütersloh. Auf der Strecke bleiben unter anderem rund 2.500 Jobs der Zusteller*innen im Bereich der Westfälischen Medienholding (Aschendorff in Münster, Münsterland und OWL).
Rufe nach staatlicher Hilfe
Angesichts der beginnenden Ausdünnung lokaler Medienvielfalt häufen sich die Rufe nach staatlicher Pressehilfe. Die Ampel-Regierung hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag dazu bekannt, „die flächendeckende Versorgung mit periodischen Presseerzeugnissen zu gewährleisten“. In diesem Sinne hatte sich auch der Bundesrat Mitte September 2022 in einer Resolution geäußert. Passiert ist bislang allerdings nichts. Seit Anfang April dieses Jahres liegt ein vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) beauftragtes Gutachten zur „Erforderlichkeit und Möglichkeit einer Bundesförderung für die Pressewirtschaft“ vor. Darin wird eine Zustellförderung aus wirtschaftlicher Sicht als sinnvoll und gerechtfertigt qualifiziert.
Laut Bundesverband Deutscher Anzeigenblätter (BVDA) sieht die Studie die Bundesregierung „in der Pflicht, um einer Unterversorgung mit gedruckten Presseprodukten entgegenzuwirken“. Dies gelte vor allem im ländlichen Raum und in Bezug auf ältere Bevölkerungsgruppen, „die nicht auf digitale Angebote wechseln können oder wollen“. Auch der BDZV drängt auf eine schnelle Umsetzung des Ampel-Versprechens. In der Regierung scheint die Lust auf eine Entscheidung allerdings nicht sonderlich ausgeprägt. Wirtschaftsminister Robert Habeck verneint seine Zuständigkeit, die gleichfalls involvierte Kultur- und Medienstaatsministerin Claudia Roth kommt einstweilen nicht zu Potte.
Auch ver.di erkennt Gefahren für die Meinungsvielfalt infolge steigender Pressekonzentration. Aus Sicht von Bundesvorstandsmitglied Christoph Schmitz sind direkte staatliche Fördermittel jedoch ein „hochsensibles Unterfangen“, für das klare Maßgaben gelten müssten. ver.di fordert, den Bezug von Förderung an bestimmte Konditionen zu knüpfen, „insbesondere Tarifbindung in den Betrieben, die Einhaltung des Pressekodex und einen hohen redaktionellen Anteil“ in den geförderten Medien.